RH, AK Interessanterweise nennst du deine Gebilde „Tempel“, ein Begriff, der häufig einen Ort der Verehrung im Rahmen einer religiösen Gemeinschaft bezeichnet. Welche Rolle spielt deiner Meinung nach Spiritualität mit Blick auf [neue] Gemeinschaften?
YAO „Was heilig ist, ist vergänglich“ – dieser Satz dient als eine Art Leitmotiv für meine Arbeit. Ich bin überzeugt, dass es die Dinge sind, die wir nicht festhalten können, die wir nicht besitzen oder beanspruchen können, die bedeutungsvoll werden und einen Kern von Staunen oder Verehrung in uns ansprechen. Was ist Regen? Wenn wir sagen, es regnet, sehen wir Regen dann, wie er wirklich ist, oder nennen wir es bloß Regen? Das sind Milliarden Wassertropfen, von denen jeder einzelne eine individuelle Form, Gestalt und Wassermenge in sich trägt. Die Tempel werden auf ähnliche Weise entworfen, nämlich in dem Sinn, dass jede Stoffoberfläche in dem Entwurf vom Standpunkt des einzelnen Fadens, der ihn zusammenhält, betrachtet werden sollte. Die Wirkungen, die entstehen, wann immer ein mikroskopischer Organismus die Fasern des Tempels frisst oder seine Eier auf ihnen ablegt, sind genauso wichtig wie die Gesamtform des Tempels auf der Makroebene. Wenn wir von der materiellen Heiligkeit zu einer anderen Ebene übergehen, ist der Tempel ein lebendiges architektonisches Wesen, das unsichtbare Geister der Ahnen beherbergt, die aktiv das Gleichgewicht in allen Ökosystemen bewahren, mit denen wir verknüpft sind. In dieser Hinsicht sind die Tempel nicht mit einem speziellen Glaubenssystem verknüpft, sondern erlauben vielmehr, mithilfe von kontemplativer Erfahrung heiliger Vergänglichkeit, die von der Reaktion des Tempels auf die Umweltsysteme der Entropie durchdrungen ist, sämtliche Glaubenssysteme anzunehmen.